Die Menschen sind heute ständig abgelenkt und können sich nicht mehr auf eine Tätigkeit fokussieren, diagnostiziert das Berater-Duo Vera Krähenmann und Kurt Klaus. Die Psychologin und der Kommunikationstrainer finden, wir müssen achtsamer werden und wieder lernen, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.
Interview: Stephanie Vinzens
Frau Krähenmann, Herr Klaus, unsere Gesellschaft scheint gestresster denn je. Arbeiten wir zu viel?
Kurt Klaus: Das wage ich zu bezweifeln. Wir hatten noch nie so viel Freizeit wie heute.
Vera Krähenmann: Um mich herum klagen viele Menschen, dass sie zu wenig Zeit haben. Die enorm gewachsene Freizeitindustrie zeugt aber vom Gegenteil.
Sind Smartphone, Internet und Co. schuld an unserem Stress?
KK: Die digitalen Kommunikationsmittel sind eine gute Sache. Nur die Art, wie wir sie nutzen, kann Stress verursachen.
Was machen wir falsch?
KK: Wir lassen uns ständig ablenken und können uns nicht mehr auf eine Tätigkeit fokussieren. Dadurch kommen wir nicht in den Flow. Das ist gravierend, denn im Flow sind wir leistungsfähig, brauchen wenig Energie, sind hoch kreativ. Studien zeigen: Wenn wir uns nach jeder Ablenkung erneut sammeln müssen, verlieren wir auf den Tag hochgerechnet mehrere Stunden.
VK: Sich ablenken zu lassen, kann dazu führen, dass wir uns selbst und die aktuelle Situation nicht umfassend wahrnehmen und weniger bewusste Entscheidungen treffen. Wünschenswert wäre es, wenn wir von früh auf lernten, wie wir ticken.
«WIR VERLIEREN AUF DEN TAG HOCHGERECHNET MEHRERE STUNDEN, WEILWIR UNS NICHT MEHR AUF EINE TÄTIGKEIT FOKUSSIEREN KÖNNEN.»
Wie gelingt uns das?
VK: Indem wir aufhören, dem vermeintlichen Glück hinterherzurennen und uns stattdessen fragen: Was tut mir jetzt gut? Unabhängig davon, was einem aufgrund allgemein gültiger Meinungen guttun müsste. Wirklich bedeutsam sind Fragen wie: Wann fühle ich mich lebendig? Wo denke ich nicht an die Zeit? So finde ich heraus, was mir persönlich wichtig ist. Auch Achtsamkeitsübungen helfen.
Haben Sie einen konkreten Tipp?
VK: Sich hinsetzen und versuchen herauszufinden, wie es einem gerade geht. Was spüre ich? Wie schlägt mein Herz? Wie fühlt sich das Atmen an? Aus dem permanenten Tun ins (Da-)Sein kommen. Halten wir inne, spüren wir, was wir im Moment brauchen.
Herr Klaus, Sie arbeiten mit der Persönlichkeitsanalyse. Wie kann diese helfen?
KK: Jede Persönlichkeitsausprägung hat gewisse Vorteile und Gefahren. Kenne ich diese, kann ich herausfinden, was mir liegt, und mich besser auf meine Stärken konzentrieren. Durch die Analyse kann ich auch realisieren, wenn ich falsche Vorbilder habe und jemandem nacheifere, der ganz anders gestrickt ist als ich.
VK: Ganz im Sinne von seine Stärken stärken statt permanent versuchen, seine Schwächen auszubügeln.

Schauen wir zu stark auf unsere Fehler?
VK: In der Evolution sind wir als Spezies Mensch unter anderem so weit gekommen, weil unser Hirn darin genial ist, (Lebens-)Gefahren zu erkennen und Fehler zu finden. Darauf sind wir noch heute getrimmt. Das ist gut so – kann aber auch eine Falle sein.
Inwiefern?
VK: Wenn ich alles glaube, was sich mein Kopf denkt, habe ich vielleicht ständig das Gefühl, etwas an mir ändern zu müssen. Empfinden wir Stress, fehlt uns häufig das klare Denken und wir schätzen vieles vorschnell als Risiko ein.
Was führt Ihrer Erfahrung nach zu einer Überlastung im Job?
VK: Menschen mit Burnout-Symptomen erleben häufig zu wenig Wertschätzung und Anerkennung. Beide sind Grundmotivationen für den Menschen und sozialpsychologisch gesehen überlebenswichtig.
Es geht also weniger darum, dass wir von Arbeit überhäuft werden?
VK: Viel entscheidender ist die Qualität unserer Arbeit. Wenn im Unternehmen etwa eine Angstkultur herrscht oder man nicht genügend Zeit, Mittel oder Kompetenzen hat, um die Arbeit zu bewältigen, erhöht das die Gefahr einer Überlastung. Die Quantität spielt eine geringere Rolle. Ich kenne Leute, die arbeiten 60 Stunden in der Woche ohne sich überlastet zu fühlen.
KK: Ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür. Ich habe eine riesige Freude an meiner Arbeit und schaue selten auf die Uhr. Es gibt Wochen, da arbeite ich locker bis zu 80 Stunden.
In unserer Gesellschaft wird die Work-Life-Balance immer wichtiger.
KK: Ich mag das Wort Work-Life-Balance nicht. Meist steht Work für schlecht und Life für gut. Ich möchte Arbeitszeit und Lebenszeit nicht trennen. Ich kenne viele Leute, die brauchen in der Arbeit weniger Energie als in der Freizeit. Arbeit darf Freude machen, Arbeit darf auch Energie geben. Deshalb spreche ich viel lieber von der Lebensbalance.
Aber vielen Leuten bereitet der Job keine Freude.
KK: Klar. Es ist eine Illusion zu meinen, dass jeder Mensch eine Arbeit hat, die ihn erfüllt. Das ist in unserem System aus meiner Sicht gar nicht möglich. Wichtig ist deshalb, welche Einstellung wir zu unserer Arbeit haben.
Das heisst?
KK: Sehen wir in dem, was wir machen, einen Sinn, fällt es uns viel leichter. Dabei kann durchaus schon Sinn genug sein, für den Lohn zu arbeiten.
Um zufrieden zu sein, muss ich also nicht zwingend einen erfüllenden Job haben?
KK: Ja – solange er nicht frustriert. Wichtig ist in diesem Fall aber auch, dass man lernt, sich von seinem Job abzugrenzen sowie Freude und Wertschätzung an einem anderen Ort zu holen.
VK: Wer Freude an seinem Job hat, gehört zu den Privilegierten. Die Vorstellung, dass Arbeit uns glücklich machen muss, erachte ich aber als problematisch.
Weshalb?
VK: Unsere wachstums- und leistungsorientierte Kultur will uns oft glauben lassen, dass es das höchste Ziel ist, glücklich zu werden. Dass unser Leben sonst nicht erfolgreich ist. Das ist eine Illusion, die enormen Druck erzeugt. Wir werden immer unglückliche Phasen erleben. Daran können wir wachsen. Leben heisst für mich unter anderem lernen – auch das kann als befriedigend empfunden werden.
«UNSERE WACHSTUMS- UND LEISTUNGSORIENTIERTE KULTUR WILL UNS OFT GLAUBEN LASSEN, DASS ES DAS HÖCHSTE ZIEL IST, GLÜCKLICH ZU WERDEN. DASS UNSER LEBEN SONST NICHT ERFOLGREICH IST. DAS IST EINE ILLUSION, DIE EINEN ENORMEN DRUCK ERZEUGT.»
Kann man im Leben zu viel Entspannung haben?
VK: Wir beide vergleichen das Leben gerne mit einem Gummiband, das im Einsatz gespannt ist und danach wieder entspannt. Arbeiten – ausruhen. Wach sein – schlafen. Einatmen – ausatmen. Dieser Rhythmus ist lebenswichtig. Wenn das Gummiband nur gespannt ist, zerreisst es früher oder später. Wenn es lange nur rumliegt und nicht genutzt wird, wird es spröde und reisst sofort, wenn man daran zieht.
KURT KLAUS, *1967, und VERA KRÄHENMANN, *1965, beraten in ihrer Firma k-bt klaus – beratung und training seit fast 20 Jahren in Bereichen wie Persönlichkeitsentwicklung, Umgang mit Stress, Burnout-Prävention und Lebensbalance. Während der Marketingleiter vor allem Kommunikations- sowie Verkaufstrainings durchführt, arbeitet die Psychologin in Einzelcoachings und als Achtsamkeitslehrerin. Für die beiden sind Motivation, psychologisches Geschick und die Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten wichtige Schlüsselpunkte für Erfolg und Zufriedenheit. Mehr: www.k-bt.ch
STEPHANIE VINZENS, *1995, studiert Journalismus und Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und hat zuvor die KV-Lehre absolviert. Als Kind hatte sie dutzende Traumberufe – von Biologin über Sängerin bis hin zu Dichterin. Sie ist noch heute auf der Suche nach ihrer Bestimmung.
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Von Mai bis Anfang Oktober 2019 gastiert das museum schaffen in der Lokstadt im Herzen von Winterthur. Als Schauplatz dient die Halle Draisine, eine ehemalige Montagehalle der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik. Im Rahmen von Eins, zwei, drei, 4.0 stehen eine anregende Ausstellung, abwechslungsreiche Veranstaltungen sowie ein Work Lab mit innovativen Workshops auf dem Programm.
Das moderne Historische Museum wird vom Historischen Verein Winterthur (HVW) getragen. Es stellt den Menschen als Schaffenden ins Zentrum und freut sich über Begleiter*innen, Besucher*innen und Macher*innen: Denn neben dem, was das Betriebsteam und seine Verbündeten selber auf die Beine stellt, bietet es auch Dritten Raum und Platz, um zu arbeiten und/oder zu veranstalten, zu feiern.